Bias und Vorurteile im Recruiting (Bild: Freepik)

Bias im Recruiting: Wie alte Stereotypen verhindern, dass sich Fachkräfte bei StartUps bewerben

  • Letztes Update:1 Jahr 
  • Lesezeit:7Minuten

Unternehmen finden oft keine neue Mitarbeiter, weil Sie in überholten Klischees denken und danach handeln. So überwindet man das.

Ein Gastbeitrag von Henrik Hasenkamp / gridscale

Was ist mit Bias gemeint?

Der Begriff der Bias ist in der IT-Welt längst in aller Munde. Statista definiert ihn als (…) Eine Verzerrung bzw. (…) Fehler der Datenerhebung, der zu fehlerhaften Ergebnissen einer Untersuchung führt.Meist bringt man ihn mit Künstlichen Intelligenzen und deren Trainingsdaten in Verbindung. Trainieren Programmierer eine KI mit einseitigen Informationen, stricken sie ihr Weltbild von Anfang an in eine verfälschte Richtung.

Ein bekanntes Beispiel dafür ist Tech-Riese Apple. Der erlebte vor ein paar Jahren einen weltweiten Shitstorm, als seine Apple Card Frauen bei der Vergabe von Krediten systematisch benachteiligte. Der Fehler lag nicht in der KI selbst, sondern in den zuvor ausgewählten Trainingsdaten. Das System war mit unzeitgemäßen Daten über die Einkommens- und Kreditverteilung zwischen Frauen und Männern aus einer Zeit gefüttert worden, in der Frauen aufgrund veralteter Rollenbilder grundsätzlich weniger arbeiteten und verdienten als Männer.

Eine Software ist nicht in der Lage, ihr beigebrachte Vorurteile und Stereotypen selbst zu bereinigen. Sie entwickelt sie stattdessen konsequent weiter, bis Programmierer die Trainingsdaten nachträglich anpassen.

Veraltete Annahmen beeinflussen das Recruiting

Menschliche Entscheider in Unternehmen brauchen zum Glück keine neuen Trainingsdaten, sie müssen schlicht umdenken und über den eigenen Tellerrand schauen, wenn es um die Überwindung von Bias, zum Beispiel im Recruiting, geht. Und es wird Zeit, dass sie das tun.

Denn: Auch der gravierende Fachkräftemangel in der IT-Branche, der laut Bundesverbands Deutsche Start-ups ganze 90 Prozent der StartUps in Deutschland betrifft, geht zum Teil auf Bias zurück. Viele Entscheider in deutschen Unternehmen liegen auch heute noch veralteten Annahmen und Informationen aus einer Zeit auf, in der der klassische IT-Mitarbeitende in Deutschland männlich, weiß, Vollzeit arbeitend und Muttersprachler war.

Alte Rollen und Klischees statt Diversity

Doch dieses Bild vom männlichen, weißen Vollzeit-IT’ler ist schon lange nicht mehr zutreffend! Denn IT-Talente sind heute deutlich diverser, als noch vor einigen Jahren. Sie sind weiblich, nicht-binär, People of Color, alleinerziehende Eltern, körperlich eingeschränkt und vieles mehr.

Trotz des allgemein gestiegenen Bewusstseins für Diversity ist diese Vielfalt in Bezug auf IT-Talente in vielen Stellenbeschreibungen noch nicht angekommen. So kommt es, dass Recruiter IT-Stellen auch 2022 häufig immer noch unbewusst nach einem veralteten Schema zu besetzen versuchen.

Doch wie können Unternehmen diese gelernten Pfade verlassen und Diversity gezielt als Mittel gegen den Fachkräftemangel einsetzen? Ein erster Tipp ist es, den sogenannten Unconscious Bias zu beseitigen.

Was ist der Unconscious Bias?

Direkt übersetzt aus dem Englischen bedeutet „Unconscious Bias“ so viel wie „unbewusste Vorurteile“. Manche reden lieber von „unbewusster Voreingenommenheit“. Diese Vorurteile bzw. Voreingenommenheit basiert festgebrannten Denkmustern.

Beispiele hierfür: Menschen mit Anzug wirken seriöser, alte Menschen sind weniger leistungsfähig und dicke Menschen faul. Aber auch der Affinity Bias (man fühlt sich zu Menschen mit gleichen Interessen mehr hingezogen), der Halo-Effekt (der Besuch einer renommierten Universität lässt jemanden besser erscheinen) und der Horn Effect (das Gegenteil des Halo-Effektes) verzerren das Bild von anderen Menschen.

Flexible Arbeitszeiten fördern: Schluss mit Nine-to-Five

Während den Hochzeiten der Corona-Pandemie funktionierte die Remote-Arbeit („Home Office„) in den meisten Unternehmen relativ reibungslos. Vorgesetzte wie Mitarbeiter schafften es, sich schnell an die neue Situation zu gewöhnen und individuelle Lösungen für die Zusammenarbeit aus der Ferne zu finden.

Flexible Arbeitsmodelle und Arbeitszeiten sowie gegenseitiges Vertrauen entschleunigten den Alltag vieler Teams, während die Effizienz durch gewonnene Work-Life-Balance sogar anstieg. Eine Win-Win-Situation. Eine, die zahlreiche Unternehmen Stück für Stück wieder zurücknehmen.

Viele Organisationen erwarten von ihren Mitarbeiter wieder mehr Präsenz: Nicht am heimischen Schreibtisch, sondern im Büro. Dabei ist das klassische Modell von 9.00 Uhr bis 17.00 Uhr zu arbeiten, immer noch weit verbreitet. Eine großes Problem vor allem für Eltern und Alleinerziehende, die diese Voraussetzung in den allermeisten Fällen nicht erfüllen können.

Ein Problem vor allem in Zeiten, in denen Betreuungsplätze für Kinder Mangelware sind und Kitas und Schulen praktisch jederzeit spontan geschlossen werden können. Der Ruf der Unternehmen zurück an den Schreibtisch schließt alle die aus, für die das klassische Nine-to-Five-Modell nicht in Frage kommt.

Stellen aufteilen: 40 Stunden sind nicht mehr der heilige Gral

Eine weitere Bias, die viele von uns kennen: Eine Arbeitsstelle ist nur dann vollwertig, wenn man sie auch mit mindestens 40 Stunden in der Woche ausfüllt. Doch viele Menschen wollen heute nicht mehr die üblichen 38 bis 45 Stunden in der Woche arbeiten – sie verbringen die Zeit lieber mit Familie, Freunden und Hobbies. Dafür sind sie bereit, am Ende des Monats weniger Gehalt zu erhalten.

Laut einer Bertelsmann-Umfrage wollen 41 Prozent der Frauen und 50 Prozent der Männer, die zur Zeit in Vollzeit beschäftigt sind, weniger arbeiten. Vollzeitstellen können auf diese Weise unter mehreren Personen aufgeteilt werden, ohne, dass Arbeitskraft verloren geht.

Im Gegenteil: Kein Arbeitnehmender ist dazu in der Lage, acht Stunden pro Tag effizient durchzuarbeiten. Verteilt man diese Zeit auf mehrere Angestellte, kann aus der gleichen Zeit im Schnitt mehr Leistung herausgeholt werden. Bei gleichzeitig weniger Stress und Druck für einzelne Mitarbeiter.

Frauen und nicht-binäre Menschen lesen Stellenanzeigen anders

Jobbeschreibungen, egal ob auf Social-Media-Plattformen, Jobportalen oder in Printmedien, sprechen noch vorrangig männliche Bewerber an – wenn auch vielleicht unbewusst. Das liegt daran, dass bestimmte Begriffe als eher männlich konnotiert gelten, andere als eher weiblich.

Worte, die Hard Skills in Jobprofilen beschreiben, sprechen laut Umfragen der TU München somit eher Männer als Frauen an. Damit sind Worte gemeint wie:

    • eigenständig
    • selbstständig
    • zielorientiert
    • direkt
    • bestimmt

Zu den weiblichen Attributen gehören:

    • engagiert
    • zuverlässig
    • ehrlich

Als junge und meist bereits relativ divers aufgestellte Unternehmen haben StartUps oft ein feineres Gespür dafür, die richtige Sprache in ihren Ausschreibungen zu verwenden. Jedoch gibt es auch hier Verbesserungspotenzial, das die Anzahl potenzieller Bewerber erhöhen kann.

Inklusion fördern: Menschen mit Handicap nicht vergessen

Bias und Vorurteile im Recruiting (Bild: Freepik)

Unternehmen, die ihre Arbeitsplätze und Angebote nicht an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen anpassen, benachteiligen damit nicht nur körperlich und geistig eingeschränkte Personen, sie halten ihren eigenen Teams auch potenziell extrem begabte Kollegen vor.

Denn: Beeinträchtigte Menschen verfügen nicht nur über die gleichen Fähigkeiten wie diejenigen ohne Behinderung, durch die Herausforderungen, die sich ihnen im Alltag entgegenstellen, haben sie oftmals gelernt, eine extrem lösungsorientierte “Hands-on-Mentalität zu entwickeln. Eine Fähigkeit, die für das Team ein großer Vorteil sein kann. Unternehmen und StartUps sollten deshalb bei der Bewerbersuche darauf achten, auch Menschen mit Behinderung zu inkludieren – nicht nur bei der Formulierung von Inseraten sondern auch in der alltäglichen Arbeit.

Investitionen in rollstuhlgerechte Büros aber auch spezielle Hard- und Software für Hör- und sehbehinderte Menschen können hier ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Auch neurodivergente Personen, Autisten oder Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit etwa, können in vielen Bereichen die gleiche oder sogar bessere Arbeit abliefern. Sofern Arbeitgeber eine gerechte und inklusive Umgebung für sie schaffen.

Sprachbarrieren abbauen und ausländische Fachkräfte ansprechen

Globalisierung und weltweite Vernetzung bieten vor allem jungen Unternehmen und StartUps die Möglichkeit, vakante Stellen mit ausländischen Talenten zu besetzen. Für Nicht-Muttersprachler müssen Jobbeschreibungen natürlich auf englisch inseriert werden, das alleine reicht aber noch nicht aus.

Bereits in der Beschreibung muss klar werden, dass innerhalb der Organisation zumindest teilweise auf englisch kommuniziert wird, sobald Menschen Teil des Teams sind, die über keine oder wenige Deutschkenntnisse verfügen. Außerdem sollten täglich genutzte Systeme, Software sowie Fortbildungen auf englisch verfügbar sein.

Ein weiterer großer Vorteil ausländischer Teammitglieder: Menschen aus anderen Kulturkreisen und Ländern bringen oft automatisch andere Blickwinkel, Denkweisen und Erfahrungen mit, die der Zusammenarbeit und letztendlich dem Unternehmen echte Mehrwerte bieten.

Fazit

Der IT-Fachkräftemangel existiert! Aber er ist zum großen Teil das hausgemachte Resultat unserer eigenen Vorurteile und Stereotypen. Die aktuelle Debatte um Diversity führt uns unsere meist unbeabsichtigten, aber dennoch unzeitgemäßen Vorstellungen vor Augen. Und sie gibt gerade jungen Unternehmen die Chance, umzudenken und ihren Kurs im Recruiting anzupassen. Denn Bewerber sind in ausreichender Anzahl am Markt vorhanden, wenn man die Suche verändert.


Über den Autor:

Henrik Hasenkamp verantwortet als CEO die Strategie und Ausrichtung von gridscale, einem europäischen IaaS- und PaaS-Anbieter, der mit seiner innovativen Technologie die Basis für anspruchsvolle Cloud-Lösungen schafft. Mit gridscale ebnet der Diplom-Wirtschaftsinformatiker mittelständischen Unternehmen den Weg in ein neues Zeitalter der IT-Skalierung und bietet ihnen eine Lösung, die Qualität, Transparenz und leichte Anwendbarkeit zu ihren Markenzeichen gemacht hat.


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